Aus der anwaltlichen Praxis: Zeuge vs. Sachverständiger

Dem 75-jährigen Mandanten wurde vorgeworfen, auf einem Parkdeck eines Supermarktes einen Verkehrsunfall verursacht und sich sodann unerlaubt vom Unfallort entfernt zu haben. Die Unfallverursachung stellt eine Ordnungswidrigkeit dar; das unerlaubte Entfernen vom Unfallort wird gemäß § 142 StGB mit bis zu 3 Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bestraft. Als Nebenstrafe droht die Entziehung der Fahrerlaubnis (bei einem Fremdschaden ab ca. 750,00 €) oder ein Fahrverbot von 1 bis 3 Monaten. Ferner werden 3 Punkte (bei Verurteilung mit Entziehung der Fahrerlaubnis)  bzw. 2 Punkte (bei Verurteilung ohne Entziehung der Fahrerlaubnis) im Fahreignungsregister eingetragen. Zudem würde die KfZ-Haftpflichtversicherung, die den Unfallschaden des Geschädigten ausgeglichen hat, Regress beim Mandanten nehmen; auch die Gerichts- und Anwaltskosten müsste der Mandant tragen.

Die Staatsanwaltschaft stützte ihre Anklage der Unfallflucht im Wesentlichen auf zwei Zeugen, die beobachtet haben wollen, dass der Mandant nach dem Anstoß am Geschädigtenfahrzeug „erschrocken geschaut und die Hände hochgerissen“ habe.  Aus der Schilderung der Reaktion des Mandanten wäre in der Tat darauf zu schließen, dass der Mandant den Unfall bemerkt und sich dennoch vom Unfallort entfernt hat.

Der Mandant hat im Beratungsgespräch aber stets darauf bestanden, einen Unfall nicht bemerkt zu haben.

Wir haben daher noch vor Eröffnung der Hauptverhandlung beantragt, ein sogn. Bemerkbarkeitsgutachten zur Frage, ob der Mandant den Unfall tatsächlich bemerkt hat, einzuholen. Das Gericht hat daher ein entsprechendes Gutachten in Auftrag gegeben. Der gerichtlich beauftragte Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass der Unfall von einem durchschnittlichen Verkehrsteilnehmer hätte bemerkt werden müssen, da der Anstoß durchaus nicht unerheblich war (taktile Wahrnehmbarkeit).  Bei einem Vorsatzdelikt – wie dies das unerlaubte Entfernen vom Unfallort darstellt – kommt es jedoch nicht auf die Wahrnehmbarkeit eines durchschnittlichen Verkehrsteilnehmers an, sondern auf die individuelle Wahrnehmung des jeweiligen Tatverdächtigen. Dem Sachverständigen lagen „glücklicherweise“ die Videobänder des Supermarktes vor. Auf diesen konnte man den Unfall als solches deutlich erkennen. Die Unfallverursachung war insoweit nachgewiesen. Aber auf dem Videoband war auch deutlich zu erkennen, dass der Mandant nach dem Anstoß keinerlei Reaktion auf den Anstoß zeigte. Weder schaute er in den Rückspiegel, noch drehte er sich um und schon gar nicht schaute er erschrocken oder riss gar die Hände hoch, wie die Zeugen dies behaupteten. Aufgrund der fehlenden Reaktion des Mandanten auf den Zusammenstoß hat der Sachverständige darauf geschlossen, dass der Mandant den Unfall gerade nicht bemerkt hat.

Der Mandant war daher wegen des Tatvorwurfes des unerlaubten Entfernens vom Unfallort freizusprechen; hinsichtlich der Unfallverursachung wurde er zu einer Geldbuße von 55,00 € verurteilt. Ohne das Videoband und die Feststellungen des Sachverständigen wäre der Mandant aufgrund der Zeugenaussagen wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort mit den oben benannten erheblichen Konsequenzen verurteilt worden. Warum die Zeugen – übereinstimmt und voller Inbrunst – behauptet haben, der Mandant habe eine Reaktion auf den Zusammenstoß gezeigt, woraus zu schließen wäre, dass er den Unfall bemerkt habe, bleibt fraglich.